18 Oktober 2008

Die Prinzessin der Schwerter

Vor langer Zeit lebte weit oben in den Bergen, so hoch, dass sie fast den Himmel berühren konnte, eine Prinzessin. Sie entstammte einem alten Amazonengeschlecht. Schon ihre Mutter und ihre Großmutter waren Amazonen gewesen, stolz, kämpferisch, stark und einsam. Auch die Prinzessin lebte allein, und da sie noch immer keine Kinder hatte, fürchtete sie, dass mit ihrem Tod auch die Blutlinie ihrer Familie enden würde.

Ihre Mutter hatte sie schon früh im Umgang mit einem scharfen Schwert unterwiesen, hatte ihr gezeigt, wie man einen Gegner mit einem einzigen, wohlgezielten Schlag besiegen, ja töten konnte, wenn man sein Herz traf. Auch hatte die Prinzessin gelernt, dass es wichtig war, stets aufrecht zu stehen und niemandem, weder Freund noch Feind, eine Schwäche zu zeigen.

"Helfen kannst nur Du Dir, niemand sonst. Rechne niemals damit, dass Dir jemand in einer Notlage beisteht, dann wirst Du auch niemals enttäuscht oder verletzt werden. Übe Dich im Kampf und wenn Du fühlst, dass Du nicht siegen kannst, zieh Dich zurück." Das hatte die Mutter immer zur Prinzessin gesagt, wenn diese um ihre Hilfe gebeten hatte.

Und so bewohnte sie das große Haus, in dem einst drei Generationen gelebt hatten, allein. Abends, wenn es dunkel wurde und die Schatten immer länger, zündete sie in jedem Raum eine Kerze an aus Angst vor der Dunkelheit. Und in vielen Nächten wälzte sie sich ruhelos hin und her, wachgehalten von dem Wunsch nach einem warmen Körper an ihrer Seite.

Zwar gab es einige Bewerber um die Gunst der Prinzessin, doch keiner fand den Weg zu ihrem Herzen, und so zog sie sich immer weiter auf ihren Berg zurück. Hier gab es frische Luft, einen weiten Himmel und riesige, alte Bäume, deren Stämme ihrem Rücken Halt boten, wenn sie zu erschöpft war, um aufrecht zu stehen. Denn die Prinzessin setzte den aussichtslosen Krieg fort, den ihre Großmutter angefangen hatte: Während sie sich mit einer Hand am alten und morschen Altar ihrer Familie festhielt, schlug sie mit ihrer Schwerthand voll ohnmächtiger Wut nach den Wolken, kämpfte gegen einen unsichtbaren Gegner.

Eines Tages traf sie auf einem ihrer Streifzüge durch die Wälder auf einen Ritter. Sofort zog sie ihr Schwert, bereit, sich gegen seinen Angriff zu verteidigen.

"Bitte, steckt das Schwert wieder ein!" bat er sie. "Seit vielen Jahren muss ich jeden Tag kämpfen. Ich bin müde, und ich möchte mich nicht mit Euch streiten."

"Müde seid Ihr? Dann kommt mit in mein Haus, ich werde versuchen, Euch ein wenig zu stärken." sagte die Prinzessin und reichte ihm die Hand. Vor Freude über sein Erscheinen hatte sie vergessen, dass sie kaum in der Lage war, sich selbst zu ernähren.
Der Ritter folgte ihr, doch als er sah, was sie zu bieten hatte, schüttelte er den Kopf. "Das wird nicht reichen, meine Liebe," sagte er, "ich bin wirklich am Ende meiner Kräfte."

"Dann nehmt von meiner Stärke!" antwortete sie. Sie war sicher, dass ihre Kampfeskraft für zwei reichen würde. In ihrem Kopf aber hörte sie die Stimme ihrer Mutter: "Mein liebes Kind, sei auf der Hut! Lege Schwert und Rüstung nicht ab, solange Du diesen Ritter in unserem Haus beherbergst! Du kannst nicht wissen, was er wirklich im Schilde führt. Sei wachsam und zeige keine Schwäche."

Der Ritter jedoch wünschte sich genau das: Er hatte ihr im Wald tief in die Augen gesehen und war sicher, dass unter der Rüstung eine liebenswerte Gefährtin steckte. Und da er nicht wusste, was die Stimme der Mutter gesagt hatte, bat er die Prinzessin: "Schaut, ich
vertraue Euch! Ich habe mich all meines Kriegsgerätes entledigt und bin ohne Schutz. Warum legt Ihr Rüstung und Schwert nicht ebenfalls ab? Auch Ihr könnt mir vertrauen!"

Die Prinzessin erschrak. Er verlangte von ihr, wovor ihre Mutter sie so eindringlich gewarnt hatte! Wie sollte sie ihm vertrauen? "Ich kann meine Rüstung nicht ablegen." antwortete sie ihm. "Wir kennen uns doch kaum."

"Aber trotzdem wart Ihr bereit, mich in Euer Haus einzuladen." sagte der Ritter.

"Und ich wünsche mir, dass Ihr bleibt. Aber verlangt nicht von mir, mich Euch ohne Schutz zu nähern."

Der Ritter gab nach in der Hoffnung, dass die Prinzessin eines Tages genug Vertrauen zu ihm haben würde, um auch diesen Schritt zu tun.
Und so lebten sie für eine Zeitlang miteinander, hatten gute Zeiten und weniger gute. Manchmal legte die Prinzessin ihr Schwert beiseite, behielt aber die Rüstung stets an. Zu groß war ihre Angst. Wer würde sie sein ohne ihre Waffen?
Sie wusste jedoch, dass er sich nicht auf immer mit einer Prinzessin des Schwertes zufriedengeben würde, und weil sie
fühlte, dass dieser Moment näher rückte, zog sie sich immer häufiger in den Wald zurück, mied seine Gegenwart.

Eines Tages war er ihr gefolgt und sah ihr zu, wie sie sich an den Stamm einer großen, alten Buche lehnte, die Augen geschlossen, mit einem so friedlichen Ausdruck in ihrem Gesicht, wie er ihn während all der Wochen niemals wahrgenommen hatte. Ihn erfasste ein unbändiger Zorn. Gleich vom ersten Tag an hatte er alle Waffen abgelegt, um ihr zu zeigen, dass er ihr vertraute. Sie jedoch nahm seine großzügige Geste als selbstverständlich an, ohne ihm auch nur einen Schritt entgegenzukommen. Nein, das musste ein Ende haben! Jetzt.
Der Ritter verließ sein Versteck und ging schnellen Schrittes auf die Prinzessin zu. Sie erschrak, sprang mit einem Satz hinter den Baum, ihre Hand griff zum Schwert, zog es jedoch nicht aus der Scheide. Sein Zorn wurde noch größer. Ja, glaubte sie denn, er wolle sie angreifen?


"Zeig Dich endlich!" schrie er, die Augen vor rasender Wut verdunkelt!


"Ich kann nicht." flüsterte sie und blickte zu Boden.


"Wie soll ich Dich lieben, wenn ich nicht weiß, wer Du bist?" Er machte einen Schritt auf sie zu.


"Ich verlange nicht, dass Du mich liebst." Sie wich weiter zurück.


"Aber ich will Dich lieben können!"


"Dann liebe das, was ich Dir zu zeigen in der Lage bin." Sie streckte die Arme nach ihm aus, wagte einen vorsichtigen Schritt in seine Richtung.


"Das reicht nicht." antwortete er resigniert und senkte den Blick.


Ihre Arme fielen herab. "Das habe ich gewusst." sagte sie und ging.

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