08 Februar 2009

Das Mädchen im Zug

Heute saß im Zug ein Mädchen vor mir: Braune Haare, Zopf, auf den ersten Blick völlig normal. Bis sie sich anzog. Auf den Kopf wanderte eine quietschgrüne Strickmütze, die irgendwann in den Siebzigern vorzugsweise von biederen Hausfrauen getragen wurde, als Oberbekleidung hatte sie einen rot-weiß-karierten Dufflecoat, dazu einen bunt geringelten Schal. Ihre Beine steckten in einer braunen Wollstrumpfhose, ihre Füße in ehemals schwarzen, abgetragenen Schnürhalbschuhen. Außerdem trug sie eine Brille mit extrem dicken Gläsern, die ihre Augen winzigklein erscheinen ließ.

Mein erster Gedanke war: "Das arme Kind! Wer hat sie gezwungen, sich so anzuziehen?" Dann sah ich sie mir genauer an und gewann den Eindruck, dass sie sich in ihrer Aufmachung nicht schlecht zu fühlen schien; sie sah gelassen aus und irgendwie zufrieden.

Sie ging mir den ganzen Tag nicht aus dem Kopf. Was, wenn sie irgendwo auf dem Lande lebte, zusammen mit ihren Geschwistern, die Eltern tot, aber niemand wusste davon? Vielleicht hatten die Kinder beschlossen, dass sie nicht getrennt werden wollten und ihre Eltern im Garten begraben, um jetzt ganz allein dort draussen zu leben? Vielleicht war das Mädchen ja die Ernährerin dieser seltsamen kleinen Familie und gerade auf dem Weg zum Einkaufen, nachdem sie vorher ein paar Euro in der Fußgängerzone erbettelt hatte?

Vielleicht war es aber auch ganz anders, und dieses unscheinbare, trutschige und skurrile Wesen war eine Massenmörderin, die sich immer wieder adoptieren ließ, um ihre ahnungslosen neuen Eltern nach kurzer Zeit mit einem Beil zu enthaupten, das noch Blutspuren früherer Morde auf seiner Schneide trug?

Oder sie war gerade kurz vor ihrer Zwangsverheiratung einer Sekte entkommen und auf dem Weg zur nächsten Polizeistation?

Warum habe ich sie nicht gefragt? Wahrscheinlich werde ich heute nacht kein Auge zumachen, weil sich in meinem Kopf Geschichten über dieses Mädchen breit- und selbständig machen wie früher meine sehr kleine Katze auf dem Kopfkissen.

Andererseits - wie hätte sie reagiert, wenn ich gefragt hätte? Wie fragt man so etwas? "Entschuldige bitte, ich mache mir gerade Gedanken über Deine Oberbekleidung und frage mich, wieviele Adoptiveltern Du schon erschlagen hast."

Nunja, ist jetzt ohnehin zu spät.

Aber wenn ich sie noch einmal im Zug sehe, spreche ich sie an! Ganz bestimmt.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen