12 November 2011

Wortgemälde.

Wenn ich diesen Tag malen sollte, bräuchte ich eine riesige Leinwand, mindestens zwei mal drei Meter. Und jemand müsste Klavier spielen, am liebsten Keith Jarrett. Debussy, George Winston oder eine der wunderschönen Improvisationen von Xenos wären auch passend.
Ich befände mich in einer alten Kirche, irgendwie gotisch, nur von Kerzen erhellt, die Musik klänge aus unsichtbaren Lautsprechern.
Ich würde mir die leere, weiße, aber im Kerzenlicht elfenbeinfarbene Leinwand eine Zeitlang ansehen, dann die Augen schließen, um das Bild vor meinem Inneren lebendig werden zu lassen.

Und dann würde ich links oben beginnen mit einem tiefen, dunklen Blau. Es wäre die Farbe des frühen Morgens, etwa zwei Stunden vor der ersten Dämmerung. Ein weißer Vollmond und ein einzelner Stern rechts darunter wären zu sehen.
Weiter rechts wiche das dunkle Nachtblau langsam einem zarten Rosa, darunter stahlgraues Meer mit Schaumkronen und ein paar frühen Seevögeln darauf.
Direkt in der Mitte, zwischen dem Morgen und einem strahlend hellblau-goldenen Tag eine Läuferin, ganz in Schwarz, sehr klein im Verhältnis zum Rest des Bildes.
Rechts oben gäbe es eine rote, runde Sonne, sie stünde direkt über der Steilküste. Darunter, am Wassersaum, säßen Dutzende von Möwen wie Zuschauer im Theater.

Aus den unsichtbaren Lautsprechern in meiner Kirche müsste Keith Jarrett zu hören sein, das Köln Concert von 1975.

Ich würde ein paar Meter zurücktreten, das halbfertige Bild betrachten. Meine Augen noch einmal schließen, innehalten, tief und ruhig atmen. Dann weiter.

Einen Strandsee würde ich in die linke untere Hälfte malen, davor ein Feld mit einer Herde Galloways und zwei sich spielend jagender Kälber, die aussähen wie zum Leben erweckte Teddybären.

Rechts dann den Sonnenuntergang. Schwierig wäre es, den Weg der Sonne vom leicht rosa gefärbten Morgenhimmel über das Bild nach Westen wandern zu lassen, wo sie untergehend Landschaft, Meer und Luft orange färben würde.

Doch mein Bild würde keiner Logik folgen wollen, es wäre ohne Reihenfolge; Blitzlichter eines perfekten Tages, mit meinen Augen gesehen.

Vielleicht würde ich rechts unten, auf diesen kleinen freigebliebenen Fleck, ein lächelndes Gesicht malen.

Und mit den letzten Klängen des Köln Concert würde ich auch den letzten Pinselstrich setzen - meine Signatur.

Dieses Bild wäre unverkäuflich.


Nachtrag: Jetzt, ein paar Stunden später, würde ich mein Bild noch etwas erweitern, als Dankeschön für den Menschen, der einen perfekten Tag mit einem offenen und im Gedächtnis bleiben wollenden Gespräch gekrönt hat. Interessante Unterhaltungen können durchaus mit "Warum hast Du Nosferatu auf Deinem Arm?" beginnen....

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