31 Oktober 2016

Friedliches Autofahren war vorgestern - heute sind wir Horrorclowns!

Wir sind ein Volk von Agenten in geheimer Mission. Kaum jemand lässt seine Umgebung wissen, in welche Richtung er fahren will, die Durchführung undurchsichtiger und für andere Verkehrsteilnehmer nicht nachvollziehbare Manöver ist längst perfektioniert worden. Neue Automodelle werden inzwischen ohne Blinker ausgeliefert. Es gilt, die nachfolgenden Fahrzeugführer zu überraschen, und ich persönlich halte das für eine sehr freundliche Geste, ist das Leben der meisten Menschen doch langweilig genug. 
Vor wenigen Tagen hat mir ein freundlicher Mitmensch zu einer Unterbrechung des täglichen Allerlei auf der Straße verholfen, und ich sage ihm meinen Dank. Er vollführte unmittelbar vor mir und bei ca. 60 km/h eine Vollbremsung, um dann mit Schwung in einer freie Parklücke auf der anderen Straßenseite einzubiegen. Ich fuhr neben ihn, stieg aus, baute mich auf der Fahrerseite auf und warf einen langen Blick durch das Fenster. Er war etwas irritiert. Ich erklärte ihm, dass ich nachschauen wollte, ob sein KfZ über einen Blinker verfüge, gab ihm den Rat, regelmäßig (vielleicht anfangs in der Garage, wo er unbeobachtet ist) das unfallfreie Blinken zu üben und dieses neue Verhalten nach und nach in den Straßenverkehr zu übertragen. 
Ich habe den Eindruck, dass insbesondere Männer im Herbst ihres Lebens verstärkt zu einem gewissen Starrsinn neigen, der ihren Fahrstil nicht sicherer macht. Glücklicherweise bin ich als Frau gewohnt, für den Mann vor mir mitzudenken, rechne mit jeder Form unorthodoxen Verhaltens und bin stets ausweichbereit.
Heutzutage ist Autofahren Krieg, jede Fahrt ein Scharmützel, vergleichbar mit den Guerillakämpfen in Rauschgiftanbaugebieten. Erst gestern bin ich todesmutig durch solch ein Kriegsgebiet gefahren: A7 - A5 - A66. Normalerweise versuchen ja zwei Parteien, sich gegenseitig den Garaus zu machen, doch der Gegner im deutschen Autobahnkrieg ist selten so schnell auszumachen. Er könnte im A6 hinter mir sitzen und mir, obwohl ich schon 190 km/h und damit 70 km/h schneller als erlaubt fahre, die Schnauze seines Gefährts in den Kofferraum stecken, links blinkend (für solche Fälle scheinen spezielle Blinker eingebaut zu werden, die nicht funktionieren, wenn es darum geht, eine Richtung anzuzeigen) und wild gestikulierend, er ist neben mir auf der rechten Spur, Eichsfelder Kennzeichen, Skoda Octavia, und will auf die linke wechseln, mich und mein Fahrzeug ignorierend, weil nicht fahren kann, was nicht fahren darf, vor mir im Golf Plus, von Beruf pensionierter Oberlehrer, mit dem Auftrag unterwegs, die Einhaltung von Geschwindigkeitsbegrenzungen durch die hinter ihm Fahrenden zu erzwingen.
Mein Puls befindet sich regelmäßig im Bereich des lockeren Dauerlaufs, meine Atmung ist flach, ich versuche meine Waffe (Peugeot 206 Diesel, sehr klein und für die meisten Gegner unzureichend) unter Kontrolle zu halten, zeige dem A6 hinter mir mit Daumen und Zeigefinger, wie groß der Abstand zu meinem Auto ist (Er versteht es genauso, wie ich es eigentlich meine; seine Gesichtsfarbe wechselt; und er ist nahe genug, um das deutlich erkennen zu können.), blinke links, um den pensionierten Gymnasiallehrer vor mir zu verscheuchen, gleichzeitig hupend, um den Eichsfelder Skoda darauf aufmerksam zu machen, dass sich außer ihm noch weitere Menschen auf der Straße befinden. 
Einmal mehr frage ich mich, ob es klug von der Evolution war, uns den Weg vom homo sapiens über den homo oeconomicus zum homo mobile einschlagen zu lassen.
Ich gebe den Versuch auf, den Pensionär vom Spurwechsel zu überzeugen, schlängele mich halsbrecherisch zwischen Skoda und Golf Plus durch, überhole rechts und schere im Handstreich, ohne zu blinken, wieder links ein.  Der Mistkerl im A6 hat das Manöver mitgemacht, aber ich lasse ihn nicht vor. Unter dem Lenkrad zeige ich meinen Mittelfinger.
Jetzt bildet sich vor mir ein Stau auf der linken Spur. Später, sehr viel später werde ich herausfinden, dass dieser entstanden ist, weil der deutsche Autofahrer einerseits das Reissverschlußsystem nicht verstanden und andererseits eine panische Angst davor hat, Boden zu verlieren im Kampf um Minuten und deshalb niemals, wirklich niemals einem anderen die Möglichkeit geben würde, vor ihm einzuscheren. Außerdem endet 800 Meter weiter vorn die dritte Spur, da muss man seinen Vorteil sichern. Ich reihe mich zwischen zwei LKW ein, überhole rechts (das darf man, wenn links zähfließender Verkehr ist!), warte eine Lücke ab, die einer der wenigen Autofahrer, die noch die Abstandsformel aus der Fahrschule im Kopf haben, mir lässt, und - schwupps - bin ich durch. Ganz gewaltfrei.
Endlich. Die Ausfahrt. Noch ein paar hundert Meter, und ich ziehe mich für heute aus dem Kriegsgeschehen zurück, versorge meine Wunden und wappne mich für das nächste Gefecht. Aber auch morgen werden Gefahren in Form von renitenten Rentnern auf dem Weg zur Gymnastik, tiefergelegten Halbwüchsigen im 124er, Hausfrauen mit SUV und Tunnelblick auf die Sonderangebote, Vertretern in Zeitdruck und übermotorisierten Geschäftswagen, Angestellten des Öffentlichen Dienstes mit viel Zeit, dazwischen scheinbar armamputierte Radfahrer, die sich zwar am Lenker festhalten, aber nicht die Fahrtrichtung anzeigen können und Bauern auf Treckern, die trotz Schneckengeschwindigkeit munter aus Feldwegen auf die Bundesstraße einbiegen, weil sie sich ihrer wichtigen Funktion als Beschaffer unserer Grundnahrungsmittel bewußt sind, lauern.
Ich plädiere dafür, den Fahrer jedes dritten Fahrzeugs aus seinem Auto zerren und so richtig verprügeln zu dürfen. Dann hätte man für ein paar Tage mehr Platz auf der Straße und müßte sich nicht so aufreiben. 
Verdammt, warum fährt der hinter mir schon wieder so dicht auf? Kann der sich nicht denken, dass ich abbiegen will?

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