21 Dezember 2008

Amazone

Sie sitzt aufrecht auf ihrem Pferd, hebt den Arm, zieht einen Pfeil aus dem Köcher, spannt den Bogen mit ruhiger Hand, ein Auge zugekniffen, das Ziel im Blick. Sie wird treffen, denn sie kann ihr Ziel vor ihrem inneren Auge sehen.
Dort, wo einst ihre linke Brust war, ist heute nur noch eine zickzackförmige Narbe zu sehen. Sie trägt sie mit Stolz, ihr Jagdgewand bedeckt nur ihre rechte, noch immer formvollendete Hälfte. Das war nicht immer so. Als die Narbe noch frisch war, konnte sie sich nicht im Spiegel anschauen, nicht allein jedenfalls. Sie brauchte die Arme ihrer Freundin, brauchte Halt, Verständnis, Liebe.

Heute hat sie noch immer die Schreie ihres letzten Kampfes im Ohr, sie kann das Stöhnen der Verwundeten hören; wenn sie ihren Kopf hebt, sieht sie am Himmel die Sterne, zu denen ihre gefallenen Schwestern geworden sind.

Manchmal wünscht sie sich Frieden. Oft will sie kämpfen, bis sie entweder alle ihre Gegner getötet hat oder eines Tages einem Stärkeren unterliegt. Ihr Name ist Brunhilde, Krimhild, Athene, Diana, Desdemona, Klara, Marie... Sie hat viele Namen.
Sie ist die letzte Amazone, die letzte einer stolzen Generation. Sie stirbt mit jeder Frau, die ihr Neugeborenes in einer Mülltonne dem Tod überlässt, mit jedem Mädchen, das sich für ein paar nicht ernstgemeinte Worte der Anerkennung auf den Rücken legt, mit jeder Kämpferin, die angesichts einer drohenden Konfrontation die Flucht ergreift, mit jeder alten Dame, der nicht über die Straße geholfen wird, mit jeder Lehrerin, der niemand mehr zuhört, sie leidet für alle Frauen, die niemals das Gefühl kennengelernt haben, mit sich zufrieden und dabei stolz zu sein, für jede Katze, die ihr Leben unter einem Auto lassen wird, für jeden Eisbären, der ersäuft, weil er die nächstgelegene Eisscholle nicht mehr erreichen kann.

Und so, wie in nächster Zukunft die Eisbären der Welt verlorengehen werden, wird auch die letzte Amazone verschwinden und einem vollgefressenen, desinteressierten Lebewesen weichen, das seine Brut lieblos ins Leben wirft, mit nichts als einem Cheeseburger XXL und der zum Menü gehörigen Cola im Gepäck.

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