15 Dezember 2009

Veränderungen

Als ich ihn kennenlernte, schien er ein wenig verschüchtert zu sein. Er war ein kleiner Mann, sprach leise, in einem verbindlichen Tonfall und hielt sich im Hintergrund. Er war gekommen, um zu töten, doch das war zunächst niemandem bewusst.
Er bedankte sich häufig, manchmal für Selbstverständlichkeiten. Wir alle dachten, er sei freundlich.
Nach einiger Zeit jedoch veränderte sich sein Habitus. Er war noch immer klein und leise und höflich, vermittelte immer noch das Gefühl der Unsicherheit. Doch das stellte sich als Trugschluss heraus. Er benutzte seltener freundliche Worte. Solche des Dankes schienen ihm körperliche Schmerzen zu bereiten, und wir sahen ihn zusammenzucken, wenn sie sich nicht vermeiden ließen.

Gleichzeitig verwandelte er sich. Niemand merkte das zunächst, denn diese Verwandlung ging in sehr kleinen Schritten vonstatten. Ab und zu blitzte einer seiner Zähne vor, wenn er - was inzwischen selten genug vorkam - lächelte. Auch seine Augen schienen die Farbe zu wechseln. Doch wir schoben das auf veränderten Lichteinfall.
Das ist es jedenfalls, was ich heute denke; wir haben nie offen über unsere Wahrnehmungen miteinander gesprochen.
Vielleicht konnte auch nur der sehr aufmerksame Beobachter all diese Veränderungen bemerken, weil wir viel zu sehr mit uns selbst beschäftigt waren und ihn nicht weiter beachteten. Er hatte nie "dazugehört", denn wir waren ein kleiner, feiner Kreis von Menschen, die einander achteten und wertschätzten. Er war da und schien unsere Kreise nur selten zu stören. Sein Tonfall war noch immer leise, freundlich und angenehm.

Eines Tages verschwand Klaus. Er hatte ein Gespräch mit ihm gehabt, aber niemand hatte gesehen, dass er den Raum auch wieder verlassen hatte. Er sagte, Klaus sei nach Hause gegangen, weil er sich nicht wohlgefühlt hätte. Doch Klaus kehrte nicht zurück. Wir forschten nach, doch in seiner Wohnung war er nie angekommen. Er schien sich in Luft aufgelöst zu haben.

Kurz darauf bemerkte ich, dass er muskulöser geworden war. Außerdem schienen sich seine Zähne weiter verändert zu haben; sie sahen irgendwie "länger" aus. Als ich ihn jedoch etwas intensiver anschaute, drehte er sich weg, und ich konnte nicht mehr sagen, ob meine Wahrnehmung richtig gewesen war. Aber etwas war anders, das fühlte ich.

Der Ton der Briefe, die er schrieb, statt mit uns zu reden, wurde schärfer. Er schien sich im Kampf mit allem um ihn herum zu befinden, und ich hatte den Eindruck, dass er ununterbrochen in Angriffshaltung war. Niemand mochte mehr mit ihm reden, und die meisten von uns verließen seinen Raum mit einem unerklärlichen Gefühl der Erleichterung.
Natürlich sprachen wir inzwischen über unsere Wahrnehmungen, doch ihn direkt zu fragen wagte niemand. Stattdessen wichen wir ihm aus, wann immer wir konnten.

Dann erschien Marion nicht zu ihrer üblichen Zeit. Sie war für ein paar Stunden mit ihm allein im Gebäude gewesen, aber auch jetzt behauptete er, sie sei schon lange vor ihm nach Hause gegangen. Unsere Nachforschungen ergaben das gleiche Ergebnis wie bei Klaus' Verschwinden: Niemand hatte sie gesehen, weder ihre anderen Freunde noch die Nachbarn hatten eine Vorstellung, wo sie sein könnte.

Während wir nach Marion suchten, veränderte er sich weiter, und jetzt konnte er es nicht mehr verbergen; wir bemerkten alle, was geschah. Er wurde zusehends dunkler, die Haare auf seinen Händen und Armen, aber auch seine Haut. Seine Augen wechselten die Farbe nicht mehr nur bei Lichteinfall, und seine Zähne zeigten sich spitz und scharf, wenn er versehentlich lächelte.
Wir versuchten noch immer, so zu tun, als sei alles normal, aber wir spürten, dass er unsere Blicke bemerkte. Ein paar von uns gingen, denn ihre Angst war größer als die Freude an unserem verbliebenen kleinen Kreis. Ein paar Wochen nach Marions Verschwinden waren wir nur noch zu viert. Drei von denen, die gegangen waren, hinterließen keine Spur.

Ich war geblieben, doch ich konnte meine Angst nur schwer verbergen. Immer, wenn ich mich im gleichen Raum aufhielt wie er, ging mein Atem schneller, mein Herz begann zu rasen, und ich fühlte mich wie ein Kaninchen angesichts der übermächtigen Python.

Eines Tages überraschte ich ihn in seinem Zimmer. Er saß hinter seinem Schreibtisch, die Zähne gebleckt, Schaum vor dem Mund, und sah mich mit einem wilden Blick an. In der Hand hielt er etwas Weißes, und ich war sicher, einen menschlichen Oberschenkelknochen vor mir zu haben.
Alles in mir schrie nach Flucht, doch ich konnte nicht zulassen, dass noch mehr von uns verschwanden. Denn das, was ich hier vor mir sah, ließ keine Interpretation mehr zu: Hier war ein Verbrechen geschehen, und vor mir saß der Mörder. Ich wusste nicht, was die Verwandlung in ihm ausgelöst hatte, aber das war mir jetzt, angesichts dieser gefährlichen und unzurechnungsfähigen Bestie ,gleichgültig.
Ich griff nach dem nächstbesten Gegenstand und fühlte das kalte Metall eines Brieföffners in meiner Hand. Mit einem Schrei stürzte ich mich auf ihn und stach die Spitze genau in eines seiner wild funkelnden Augen. Er wollte sich erheben, doch die Wut und die Verzweiflung gaben mir Kraft. Ich stach solange auf ihn ein, bis er sich nicht mehr rührte und Schreibtisch und Fußboden blutbefleckt waren.
Langsam wich ich zurück, Schritt für Schritt. Lebte er noch? Was, wenn seine Verwandlung auch zu einer Form der Unverletzbarkeit geführt hatte?

Ich verließ sein Zimmer. Glücklicherweise waren die anderen schon gegangen. Also verschloss ich die Tür, suchte ein Feuerzeug und ging zurück. Direkt vor seinem Zimmer befand sich ein Stapel Papier. Ich zündete ihn an, und innerhalb kürzester Zeit leckten die Flammen an der Tür. Ich wartete noch etwas für den Fall, dass er meine Attacke wider Erwartenüberlebt hatte.

Als ich sicher war, dass man den Brand nicht mehr würde löschen können, verließ ich das Gebäude.

Ich sah nicht zurück.

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