25 Juni 2012

Achtsamkeit

Also mal ganz ehrlich: Jede gute Seminarleiterin (die männliche Form ist hier der einfacheren Schreibweise wegen immer mit gemeint) kennt ja solche Übungen. Gruppendynamik, Wachwerden nach der Mittagspause, Achtsamkeit. Ich bekomme schon bei der Ankündigung Pickel und Ausschlag, mein Puls steigt auf Endspurthöhe, ein heftiger Fluchttrieb setzt ein, die Atmung beschleunigt sich, der Muskeltonus steigt, und ich bräuchte dringend meine Antiknirschzahnspange.
All das darf ich aber nicht, weil ich achtsam sein soll. Durch den Raum gehen in meiner Geschwindigkeit. Meine Atmung spüren. Meine Gedanken auf Wolken entlassen und Körpersignale wahrnehmen.

In meiner Geschwindigkeit kann kann ich aber nicht durch den Raum gehen, weil ich auf meiner wilden Flucht alles umreißen würde, was liebevoll zwecks Verbesserung der Gruppendynamik aufgebaut wurde. Meine Atmung kann ich nicht spüren, weil sie aus oben genannten Gründen viel zu flach ist; wäre ich zusätzlich schwanger, würde ich wahrscheinlich hecheln. Auf den Gedankenwolken saßen zwei ähnliche Sätze: "Ich will das nicht!" und "Wann isses vorbei?" in trauter Eintracht nebeneinander, ab und zu freundlich angestupst von Wolke Nummer 3 mit "Wie komme ich hier unfallfrei raus???". Meine Körpersignale? Siehe oben.

Glücklicherweise dauert dieses Achtsamkeitsgedöns nicht allzu lange, und glücklicherweise besuche ich ja Seminare, die auch andere Menschen mit gesundem Menschenverstand besuchen.

Es gibt nämlich auch besonders beängstigende Formen von Selbstwahrnehmern. Die müssen zu und in einem Raum erst einmal Kontakt aufbauen, fühlen sich wie Bären, die sich am Baumstamm respektive der nächsten Wand schubbern oder haben den unwiderstehlichen Drang, sich wegen der spontan aufgetretenen Erinnerungen an die vorgeburtliche Phase in Fötushaltung mitten im Raum zusammenkauern. Alles schon dagewesen. Damals bin ich geflüchtet und habe seitdem immer vorher die Seminarleiterin gefragt, ob es Achtsamkeitsübungen geben wird.

Nicht, dass ich kein Fan von Achtsamkeit wäre! Aber ich mag es nun einmal viel lieber, ein paar Laufschuhe unter meinen Fußsohlen zu spüren, meine Arme zu schlenkern, weil ich gerade mutterseelenallein durch die Feldmark renne und meinen Atem zu hören, weil ich wegen der Rennerei so laut keuche. Ich keuche gern. Und dann denke ich auch nicht mehr; dann gibt es keine Gedanken-, sondern nur Kondenswölkchen direkt vor meinem Mund.

Das Zauberwort jedoch ist ALLEIN. Denn wie, bitteschön, soll ich achtsam sein, wenn mir dauernd irgendwer vor den Füßen herumrennt und eine Stimme irgendetwas von Atmung, Körperwahrnehmung und Gehgeschwindigkeit murmelt??

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