12 Dezember 2016

12. Dezember

Eigentlich wollte ich bis heute Abend warten und etwas Besinnliches schreiben. Irgendwas Nettes, Freundliches über Lichter, Frieden, Wohlgefallen.

Aus gegebenem Anlass habe ich für heute umdisponiert und verschenke eine kleine Mordgeschichte.

Türchen auf:

Herr Kaiser war glücklich. Wieder einmal hatte er im Sinne seines Arbeitgebers an einem Tag zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Vormittags konnte er einen neuen, recht ordentlich dotierten Versicherungsvertrag abschließen, nachmittags hatte er den Anspruch eines dieser anmaßenden, geldgierigen, rücksichtslosen Bestandskunden abgeschmettert, indem er sich einfach nicht mehr meldete. Herr Kaiser strahlte über das ganze Gesicht, lehnte sich in seinem ergonomisch geformten Bürostuhl zurück und dachte: "Wenn es auch nur halb so gut läuft wie beim Letzten, hat sich die Sache bald auf natürliche Weise erledigt!"

Herr Kaiser hatte sich geirrt. Diese Versicherungskundin war anders als andere. Aber das würde er erst am Ende dieses Tages herausgefunden haben.

Kurz vor Feierabend klopfte es an seiner Bürotür. Durch die Milchglasscheibe konnte er eine rote Mütze erkennen; wahrscheinlich hatte sich einer seiner Kollegen gerade wieder zum Weihnachtsmann gemacht.
Gutgelaunt rief Herr Kaiser: "Immer herein, wenn's kein Weihnachtsmann ist!" Die Tür öffnete sich, und das Erste, was er sah, war eine Spaltaxt. Dahinter konnte er nach genauem Hinsehen ein Frauengesicht unter einer Weihnachtsmannmütze erkennen.
"Guten Tag, Herr Kaiser!" lächelte sie ihn an. Das passte so gar nicht zu der hocherhobenen Axt in ihren Händen. "Ich bin die Frau Schneider, Sie wissen schon, wir hatten ein paarmal wegen der Auszahlung meiner Lebensversicherung telefoniert." Zack! Die Axt ging hernieder und spaltete seine Schreibtischplatte. "Ich dachte, ich schaue einmal persönlich vorbei und frage, wie lange es noch dauert." Sie lächelte immer noch, schwang erneut die Axt, und Kaiser konnte sich gerade noch von seinem Schreibtischstuhl retten, bevor auch dieser in Stücke gehackt wurde.
"Ich bin ein wenig ungehalten, weil Sie sich so gar nicht melden. Deswegen hatte ich die Idee, mich an Ihren Vorgesetzten zu wenden. Aber meine beste Freundin hat gesagt, ich solle mir die Zeit sparen, der wäre doch auch nur so ein Versicherungsarschloch. Sie würde ja gleich mit einer Axt anrücken." Frau Schneider hob die Axt über ihren Kopf. "Naja, sie hat immer so gute Ratschläge parat. Da habe ich mir gleich im Baumarkt dieses Ding gekauft." Sie wackelte ein wenig mit der Axt. "Und weil ich nicht damit rechne, von Ihrem Verbrecherladen jemals mein Geld zu bekommen, wollte ich wenigstens ein bisschen Spaß haben."
Kaiser kauerte sich in eine Ecke seines Büros, die Hände über dem Kopf gefaltet, und wimmerte laut. Wo waren denn bloß seine Kollegen? Er konnte nicht wissen, dass die sich vor der Tür drängten und versuchten, die Szene bestmöglich mit ihren Smartphones einzufangen. Versicherungsvertreter haben nicht umsonst den schlechtesten Ruf aller Berufsgruppen.
"Hasta la vista, Arschloch!" rief Frau Schneider, und ließ die Axt nach dem letzten energischen Hieb direkt in Kaisers Hinterkopf stecken. Dann drehte sie sich zu seinen Kollegen um, verbeugte sich und ging.
Das ihr zustehende Geld bekam sie nicht, aber als sie ein paar Jahre später das Gefängnis verließ, in dem sie eine verhältnismäßig kurze Haftstrafe wegen Totschlags abgesessen hatte, befand sich ein erkleckliches Sümmchen auf ihrem Konto. Ihre Freundin hatte ihr einen eigenen Youtubekanal eingerichtet, und dort hatte Frau Schneider aus ihrer Zelle heraus eine Online-Rechtsberatung ins Leben gerufen, die Zehntausende von Followern hatte.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen