29 Juli 2008

Styx

Das Boot steht bereit. Der Fährmann wartet. Er schaut auf die Augen des toten Helden; die Münzen werden für die Überfahrt reichen. Langsam rudert er los. Der Held blickt zurück, schaut ein letztes Mal auf die Welt der Lebenden, denkt einen letzten Gedanken, erahnt eine letzte Umarmung, einen letzten Kuss. "Was habe ich getan", fragt er sich, "dass ich so früh hinunter muss in das Reich der Toten?"

"Das kann ich Dir sagen", hört er eine Stimme, und er weiß, dass es die Stimme des Hades ist, "Du warst rücksichtslos, eitel und überheblich, Du hast Dein Herz verleugnet und alle, die Dich liebten, ins Unglück gestürzt."
"Aber nein, ich habe immer nur getan, was mir meine Natur eingegeben hat! Ich bin ein Held, ich kann nicht anders!"
"Und jetzt bist Du ein toter Held. Willkommen in meinem Reich."

Der Held jammerte und klagte, erklärte und beschönigte. Doch der Fährmann war stumm, und Hades konnte in die Herzen derer sehen, die in sein Reich einfuhren, deswegen wusste er, dass alles nur Gerede war, dass der Held noch keine Einsicht gefunden, keine Vorstellung hatte von den Folgen seiner Taten.

"Du hast getötet. Du hast Frauen zu Witwen gemacht, Kinder zu Waisen. Du hast nicht gekämpft für ein heeres Ziel, sondern nur um des Kämpfens willen. Du hast immer nur an Dich gedacht, niemals an ein großes Ganzes. Glaubst Du wirklich, dass Dich jemand dort oben vermisst? Im Gegenteil, sie sind froh, dass Du endlich vom Antlitz der Erde getilgt worden bist!"

Der Fährmann legte an, und der Held verließ das Boot. Gesenkten Hauptes betrat er die Unterwelt, das Reich des Hades. Dessen Worte hatten ihn tief in seinem Inneren getroffen, doch nun war es zu spät. Er war getötet worden, und er würde den Rest der Weltenzeiten hier verbringen, ein Schatten unter vielen.
Er traf auf andere Schatten, auf Männer, die im Kampf gegen ihn gefallen waren, Frauen, denen er den Geliebten und
Kinder, denen er den Vater genommen hatte. Er traf Menschen, die er getötet hatte, ohne es in seinem Blutrausch zu merken, und sie alle schrien: "Geh weg! Komm uns nicht zu nahe! Du bringst Unglück, denn Du bist das Unglück!"

Der Held, der längst keiner mehr war, wankte, schleppte sich mit letzter Kraft unter einen Baum. Dort lehnte er sich an den Stamm, schloss die Augen und wünschte sich nichts mehr als ewige Besinnungslosigkeit.

"Oh nein, Du wirst Dich Deinen Taten stellen! Und erst, wenn Du am eigenen Leibe gespürt hast, was Du anderen angetan hast, darfst Du ruhen! Ich will, dass Du in Deine Welt zurückkehrst und Ordnung schaffst." befahl Hades.

Und so betrat der Held erneut die schwankenden Bohlen des Bootes, gab sich in die Obhut des Fährmanns und kehrte zurück an die Oberfläche, zurück ins Leben. Hades hatte recht gehabt: Dieser Schritt war größer und beängstigender als das Verweilen im Schattenland.

In seiner Welt angekommen, ging er von Haus zu Haus, klopfte an Türen, fand einige verschlossen, andere wurden ihm geöffnet, aber nach seinen ersten Worten wieder zugeschlagen. Die meisten seiner Opfer konnte er nicht mehr erreichen; sie waren schon lange vor ihm in der Unterwelt angelangt. Er suchte
Vergebung bei den Zurückgebliebenen.

Manchmal sind Helden nicht das, was sie vorgeben. Manchmal sind Helden grausam, gedankenlos, sie töten ohne Rücksicht auf das Leben. Manchmal sind Helden überhaupt keine Helden. Sie haben Angst, schlagen blind um sich und nehmen Menschen das Leben, bevor sie selbst verletzt werden könnten. Helden sind niemals Helden. Achilles hat Hektors Leiche geschändet und ist an seiner Arroganz gestorben. Herakles verbrannte auf seinem eigenen Scheiterhaufen. Ikaros kam der Sonne zu nahe und stürzte ab.

Wir werden niemals erfahren, ob "unserem" Helden die Vergebung zuteil wurde, die er suchte, ob er im Reich der Lebenden bleiben durfte oder zurückkehren musste ins Land der Toten.

Aber wir können versuchen, unser Leben so zu leben, dass wir niemanden verletzen. Wir können versuchen, keine Helden zu sein, sondern Menschen aus Fleisch und Blut, traurig, ängstlich, unsicher. Wir können versuchen, die Menschen, die wir lieben, zu halten, statt sie zu stoßen. Wir können über unsere Schatten springen für jemanden, den wir lieben. Wir können Verantwortung übernehmen, endlich, nach viel zu langer Zeit. Wir können unsere Ängste eingestehen, nach Hilfe rufen, den Helden in uns als das erkennen, was er ist: Eine Geschichte.

Wir müssen keine Helden sein.

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