11 August 2009

Blaubart ist eine Frau!

Der Mann schlenderte durch die Flure der Villa. Seine Frau hatte ihm die Schlüssel für alle Räume überlassen. "Schau Dich in Ruhe um. Alles, was Du findest, gehört auch Dir." hatte sie ihm erlaubt. "Aber der letzte Raum, zu dessen Tür dieser kleine Schlüssel hier passt, muss verschlossen bleiben. Du darfst ihn auf keinen Fall betreten! Ich vertraue Dir."

So öffnete er eine Tür nach der anderen. Er fand Truhen voller Gold, wunderschöne Bilder, eine Bibliothek mit wertvollen Erstausgaben, wissenschaftlichen und philosophischen Abhandlungen, ein Musikzimmer, das keine Wünsche offen ließ, in ihrem Büro staunte er über die neuesten Errungenschaften der Technik, und in ihrem Schlafzimmer legte er sich ins Bett, vergrub seinen Kopf in ihrem Kissen und atmete ihren Duft ein.

Er liebte seine Frau, war stolz darauf, dass sie ihm vertraute und entschlossen, nicht einmal in die Nähe des verbotenen Raumes zu kommen.

Doch mit jedem Tag, den er sich in der Villa aufhielt, wurde sein Verlangen größer. Welche Geheimnisse hütete sie dort? Was hatte sie in diesem Zimmer versteckt, das er nicht sehen durfte? Wollte sie ihn nur prüfen, oder verbarg sie dort das Wertvollste, was sie besaß?
Er stand vor dem Raum, steckte den Schlüssel ins Schloss, zog ihn wieder heraus und flüchtete sich in den Garten. Sie vertraute ihm! Er wollte ihr Vertrauen nicht enttäuschen.

Doch er hielt nicht lange durch. Eines Morgens, kurz nachdem seine Frau das Haus verlassen hatte, hastete er nach oben, steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür.

Der Raum war leer.

Enttäuscht sah er sich um, tastete die Wände ab, ob es nicht irgendwo eine Geheimtür oder ein anderes Versteck gab, doch er fand nichts. Was gab es hier, was seiner Frau so wichtig war, das sie es vor ihm verbergen wollte?

"Meine Seele." hörte er ihre Stimme. Entsetzt drehte er sich um. Sie stand in der Tür, ein Messer in der Hand, und schaute ihn aus tränenüberströmten Augen an. "Ich habe Dir vertraut. Und ich hätte Dir auch mein tiefstes Inneres gezeigt, wenn Du mir die Zeit gegeben hättest. Doch Du konntest nicht warten. Jetzt wird dieser Raum nie mehr sein, was er für mich war."

Sie ging auf ihn zu, fasste ihn sanft mit einer Hand am Hinterkopf. "Du verzeihst mir, das ist gut." sagte er. "Nein, das kann ich nicht." antwortete sie traurig. Und er musste hilflos mit ansehen, wie sich der helle, lichte Raum in ein Meer aus Blut verwandelte. Er starb verständnislos.

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