06 Dezember 2009

Das Haus auf der Lichtung

Das Haus steht mitten im Wald auf einer kleinen Lichtung, weit jenseits der Hauptstraße; zur nächsten Bushaltestelle wäre ein Fußmarsch von dreißig Minuten zu absolvieren, und das letzte Stück des Weges kann nur als besserer Rübenacker bezeichnet werden. Seltsamerweise gibt es vom Weg aus nur die Rückseite des Hauses zu sehen; ein freundlicher Vorgarten oder eine Haustür mit einer der Jahreszeit angepassten Dekoration entziehen sich dem Blick.

Ein Spaziergänger, der sich in diese Einöde verirrt, wird gegebenenfalls kurz innehalten, sich einmal umschauen und seinen Weg fortsetzen. Vielleicht wird ihm ein besonders erdiger Geruch auffallen, sein Blick könnte auf den außergewöhnlich wild wuchernden Pflanzen verweilen, oder er machte sich möglicherweise Gedanken darüber, warum es so unnatürlich still ist in diesem Teil des Waldes.

Hat der Spaziergänger nicht allzuviel Phantasie, sondern ist der vielbeschäftigte Abteilungsleiter einer Versicherungsgesellschaft, wird er sich fragen, in welcher Richtung sein Auto steht und wie er am schnellsten den Parkplatz erreichen kann. Er wird seine Schritte beschleunigen, ohne es zu merken, und den kalten Schweiß auf seiner Haut wird er genauso ignorieren wie die jährliche Krebsvorsorge.

Handelt es sich jedoch um einen aufmerksamen Menschen mit einer gewissen Empfindsamkeit für Schwingungen, Stimmungen oder Gefühle, könnte er das Bedürfnis verspüren, sich länger umzuschauen an diesem Ort, der ihn gleichzeitig anzieht und abstößt.

Um allerdings zu bleiben, vielleicht sogar auf das Haus zuzugehen, müsste der Spaziergänger seine innere Stimme ignorieren, die ihm seit geraumer Weile zuflüstert, er solle schnellstmöglich das Weite suchen, den Weg wieder zurückrennen, ohne sich noch einmal umzuschauen. Hört er auf diese Warnung, wird er atemlos an der besagten Bushaltestelle ankommen, kaum in der Lage, den Fahrplan zu entziffern, erschöpft von der ungewohnten Anstrengung, zitternd und fröstelnd.

Wenn er bleibt, die Schultern hochgezogen, tief durch den Mund ein- und ausatmend, weil ihm ein seltsamer, unangenehmer Geruch aufgefallen ist, wird er langsam, sehr langsam auf das Haus zugehen, dabei möglichst großen Abstand von den Bäumen und Büschen haltend, weil sie ihm bedrohlich erscheinen. Dann wäre es denkbar, dass er all seinen Mut zusammennimmt und in eines der Fenster schaut, die Hände rechts und links an die Augen gelegt, um mehr erkennen zu können.

Und dies wäre seine letzte Chance, Haus und Lichtung gesund zu verlassen. Wahrscheinlich hätte er für einige Monate Alpräume, die er mit einem Therapeuten besprechen könnte, vielleicht würde er den Entschluss fassen, sein Leben von Grund auf zu ändern.

Außerdem hätte er noch die Möglichkeit, den Vorfall nach einiger Zeit zu vergessen, so, wie man Dinge aus dem Gedächtnis tilgt, die das eigene Weltbild erschüttern könnten. Er würde seinen üblichen Tagesablauf wieder aufnehmen, dankbar für die Routine, die seinem Leben Sicherheit verleiht.

Doch der Spaziergänger flieht nicht, weil er nicht erkennen kann, was sich auf der anderen Seite der schmutzigen Fensterscheiben verbirgt. Stattdessen haucht er das Glas an und fährt mit dem Ärmel seiner Jacke darüber. Da auch dieser Säuberungsversuch erfolglos bleibt, geht er vorsichtig um das Haus herum auf der Suche nach einem sauberen Fenster oder dem Eingang.

An der Rückseite findet er eine Tür, doch diese ist mit Brettern vernagelt. Einzig ein sehr schmales Kellerfenster könnte ihm einen Zutritt verschaffen.

Er verharrt, unsicher, wie er weiter verfahren soll. Wenn er durch das Kellerfenster ins Haus eindringt, ist er nicht besser als ein x-beliebiger Einbrecher, und wenn er Pech hat, kommt genau in dem Moment, in dem er wehrlos in einem möglicherweise zu schmalen Fenster steckt, ein weiterer Wanderer des Weges und ruft die Polizei. Und das wäre noch die freundlichere Alternative – was, wenn er wirklich festsäße, seine schwächer werdenden Hilferufe ungehört im Wald verhallten und niemand käme, um ihn aus seiner Zwangslage zu befreien?

Dieser Spaziergänger jedoch ist nicht nur ein empfindsamer, sondern auch ein mutiger und neugieriger Mensch, und so sorgt er mit einem gezielten Tritt gegen das bereits brüchige Glas des Kellerfensters für Einlass. Nach einem letzten Blick in die Runde lässt er sich vorsichtig, die Füße voran, in die Dunkelheit des fremden Kellers hinab.

Etwas huscht auf kleinen Pfoten durch die Dunkelheit; wahrscheinlich hat er die eine oder andere Ratte bei ihrer Mittagsruhe gestört.

Noch fehlt dem Spaziergänger der Mut, sich von der sicheren Wand im Rücken fortzubewegen, auch scheint ihm der schwache Lichtschein, der den Platz, auf dem er steht, erhellt, wie eine Insel in einem Meer bedrohlicher Dunkelheit. Was mag sich hinter dem Licht verbergen? Was wird er in diesem Keller finden, und was ihn erwarten, wenn er die Treppe zum Erdgeschoss hinaufsteigt?

Für einen kleinen Moment bleibt er an die Wand gelehnt stehen, betrachtet seine Hände, atmet noch einmal tief durch und marschiert festen Schrittes in die Richtung, in der er die Kellertreppe vermutet. Mit jedem Meter, den er sich vom Fenster entfernt, wird es dunkler, bald muss er seinen Schritt wieder verlangsamen und sich vorsichtig an der Wand entlangtasten. Seine Hand fährt über Spinnweben, er fühlt den einen oder anderen Käfer über seine Finger laufen. Mehr als einmal fragt er sich, ob es nicht besser sei, wieder umzukehren, doch etwas in ihm geht immer weiter.

Endlich ertastet sein rechter Fuß die Treppe. Er nimmt seinen letzten Atemzug und steigt langsam, Stufe, für Stufe, nach oben.

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