17 April 2016

42195 Meter. 1100 Höhenmeter. Ich bin eine Heldin!

Kurz vor 10.00 Uhr. Gleich geht es los. Da steht der Pfarrer und will einen Marathonsegen sprechen. Habe ich mir das auch gut überlegt??? Ist ja schon ein bisschen wie tot, bevor ich überhaupt den ersten Herzinfarkt hatte. Egal. Ich bin doch aber gar nicht evangelisch. Oder ist das ein katholischer Pfarrer? Auch egal. Meine ganz persönliche höhere Macht wird Verständnis dafür haben, dass ich mir das jetzt anhöre. Verdammt, mir laufen die Tränen! Ich bin im Begriff, den ersten Marathon meines Lebens zu laufen! Und dann noch gleich so einen schweren... Ich muss völlig bekloppt sein.
Der Liebste und beste Ehemann von allen reicht mir eine Banane zur Beruhigung und zeigt mir den Weg zum Dixiklo. 
Vorher.

Ich tue mal so, als ob es mir gut geht.

Dann ist allgemeines Versammeln vor der Startlinie angesagt. Es ist bedeckt, relativ kühl, und ich und noch ein paar Bekloppte schicken sich an, den Bilstein im Kaufunger Wald - und noch ein paar andere "kleine" Hügelchen zu erklimmen. 
Der Starter zählt von 10 runter. Wir auch. Ich muss schon wieder heulen. Nach der "1" ruft er "Ihr seid Helden!". Das finde ich auch und heule noch mehr. Los geht's. 
Wie immer suche ich mir den hinteren Teil der Menge aus und habe die im Nachhinein völlig blödsinnige Idee, von dort dann den einen oder die andere zu überholen. Blödsinn, das schrieb ich schon.

Direkt vor mir läuft Norbert Meier. Es gibt da einen fiesen Lauftrainer namens Peter Greif (gucken Sie www.greif.de). Der schreibt immer, dass es in jedem Rennen einen Norbert Meier gibt. Der ist doof, unsympathisch, und den gilt es erst zu demoralisieren und dann in Grund und Boden zu rennen. Mein Norbert Meier ist ein bisschen übergewichtig und in schreiend bunte Kompressionsklamotten gewandet. Die trage ich auch, aber ich bevorzuge existentialistisches Schwarz.
Nach der ersten Steigung (und die kommt bald) ist Norbert Meier schon ein paar hundert Meter vor mir. Für den Moment uneinholbar. Ich bin trotzdem so ungefähr in meiner Zeit. Das ist aber auf den ersten beiden Kilometern nicht so schwierig.

Für die Nichtläufer unter Ihnen kürze ich ab: Ich bin angekommen und nicht Letzte geworden. Ich hatte die ganze Zeit Spaß. Ich habe immer mal wieder einen Plausch am Verpflegungsstand gehalten. Ich werde nächstes Jahr wieder antreten. Und 2018 laufe ich den Ultra. Der hat irgendwas um die 58 Kilometer.
Wenn Sie sich hinreichend informiert fühlen, brauchen Sie jetzt nicht weiter zu lesen. Obwohl Sie dann ein paar wohlformulierte Anmerkungen verpassen werden.

Norbert Meier ist irgendwie weg. Ich kämpfe mich gemeine und nicht enden wollende Steigungen hoch, stolpere über Baumwurzeln und bin zwischenzeitig in Sorge, mich verlaufen zu haben. Ein älteres Ehepaar, das ich unterwegs treffe, teilt mir tröstend mit, zum Bilsteinturm sei es gar nicht mehr weit. Sie wissen nicht, dass ich dann gerade mal etwas mehr als die Hälfte geschafft haben werde. 

Es geht ruff un runner, wie der Nordhesse sagt. An der gemeinsten Steigung steht der Kleinalmeröder Blechbläserverein, der blöderweise genau dann eine Pause macht, als ich hochgeschnauft komme. Dafür stehen weiter unten zwei entzückende Kinder, die ein paar Zweige als Cheerleaderpuschel benutzen. Ich bin denen völlig egal, die feiern sich selber, aber das macht nichts. Ich fühle mich mit gefeiert.

Zwischendrin bete ich zu allen möglichen Göttern: "Artemis, bring mich auf diesen Scheißberg!", "Thor, gib mir Kraft!", "Mutter Erde, hilf mir!". Den effektivsten Schubser bekam ich nach "Mutter, schieb!". "Holt Muhl und renn!" höre ich sie auf Plattdeutsch sagen, gehorche und schicke Grüße nach Wohinauchimmer. 

Norbert Meier begegnet mir erst wieder auf dem Weg nach unten. Er hat einen ebenfalls  bunt gewandeten Mitstreiter gefunden, und als ich angelaufen komme, werden sie schneller. Ar...! Was Ihr könnt, kann ich schon lange! Ja, ich weiß, es liegen noch ca. 15 Kilometer vor mir, aber wat mutt, mutt. Ich beschleunige auf ca. 13 km/h und fliege an den beiden vorbei. Tja, da könnt Ihr nicht drauf wechseln in Euren Kasperklamotten, was?
Eine Biegung. Göttinseidank. Ich muss kurz etwas gegen dies höllischen Seitenstiche unternehmen, will aber nicht von den beiden erwischt werden, wie ich mir keuchend die Rippen massiere.

Ich gehe viel, nicht nur auf den letzten Kilometern, die noch einmal voll fies und vor allem ruff gehen. Aber das ist mir völlig egal. Ich werde ankommen. Scheiß auf die Zeit. 

Da! Geräusche! Ein mir bekannt vorkommender Rübenschnellweg. Asphaltiert. Bergrunter! Die Filmmusik von Rocky IV im Ohr (für Fans: da, wo er in Russland im Schnee den Berg hochrennt und Drago auf wehrlose Messgeräte eindrischt) muss ich gar nicht irgendwelche letzten Kräfte mobilisieren. Die sind auf einmal da. Ich renne den letzten Kilometer, als wäre Norbert Meier direkt hinter mir. Ist dem Mistkerl auch zuzutrauen, dass er noch kurz vor dem Ziel zu überholen versucht. Ne, nicht mit mir! 

Ein grüner Plastikbogen taucht auf. Der Liebste hat sich einen guten Platz zum Fotografieren gesucht. Ich mache die Rocky-Faust (für Fans: das Filmplakat zu "Rocky Balboa"). Ich klatsche den Moderator ab. Ich nehme meine erste Marathon-Medaille entgegen. Es ist geschafft! Und Norbert Meier ist weit hinter mir. (Später erfahre ich übrigens, dass Norbert Meier im wirklichen Leben nicht so heißt, aber ein sehr unangenehmer Zeitgenosse sein soll. Dachte ich's mir doch!) 
Nachher.

Ich schicke die gute Nachricht an alle meine Freunde und Verwandten, teile ihnen mit, dass ich mich jetzt zum Sterben zurückziehen werde und humple am Arm meines Liebsten zum Auto. Morgen wird es mir großartig gehen, und in drei Tagen werde ich wieder laufen, aber das weiß ich jetzt noch nicht.

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